Die Welt der anderen kennenlernen

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Ein Dach über dem Kopf, Essen, Kleidung und den Schulbesuch, all das bekommen Mädchen im peruanischen Chincha. Und sie lernen Mädchen aus Deutschland und den USA kennen. Die Begegnung ist keine Einbahnstraße.

„Wir waren Teil der Familie und keine Touristen“, betont Lia, „und haben Erfahrungen gemacht, die uns kein mehrmonatiger Urlaub bieten kann.“ Die 16-jährige Berlinerin hat fast ein Jahr lang in Chincha, etwa 200 Kilometer südlich von Lima, eine katholische Schule besucht. Sie wohnte dort mit Courtney, einer 17-jährigen Gastschülerin aus den USA, in der Familie der Biochemikerin Monica Elvira Aviles Calderon. Die beiden Jugendlichen kamen über das „Rotary Youth Exchange Programm“ nach Peru. Daran nehmen weltweit jedes Jahr über 10.000 Jugendliche teil, darunter auch 3000 junge Deutsche.

Die Idee dahinter: Jungen Austauschschüler besuchen nicht nur in die Schule ihres Gastlandes, sondern engagieren sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich. Lia und Courtney etwa unterstützten in Peru ein Camp für Mädchen ohne Eltern. Regelmäßig besuchten sie die dort lebenden Kinder und Jugendlichen: Sie sprachen oder spielten mit ihnen, hörten sich ihre Sorgen und Nöte an oder waren einfach nur für sie da.

Gerade wurde in Chincha ein Erweiterungsbau errichtet – auch dank großzügiger Spenden aus Europa. Damit verbessern sich die Lebensbedingungen für die Mädchen im Alter von 3 bis 18 Jahren. Sie haben zukünftig etwas mehr Platz und einen größeren Sanitärbereich. „Die Anlage wurde ursprünglich für 50 Mädchen gebaut“, sagt Lias Gastmutter Monica, „aber jetzt leben hier 75 Kinder und Jugendliche. Dafür sind die Kapazitäten nicht ausreichend.“

Sicherheit und Bildung

Monica Calderon setzt sich für andere ein und erwartet das auch von ihren Gastkindern. (Foto: Rocco Thiede)

Einige der Kinder sind Waisen. Andere haben zwar noch Mutter oder Vater, kommen aber aus stark zerrütteten Familien, wurden Opfer von innerfamiliärer Gewalt, sexuellem Missbrauch bis hin zu Vergewaltigungen durch Brüder, Cousins, Väter, Nachbarn. „Wir haben in Peru leider noch immer viele soziale Probleme und Armut“, berichtet die engagierte Mutter und Managerin Monica Calderon.

Gegründet wurde das Waisenhaus im Jahr 2000 vom lokalen Rotary Club der Provinz Ica. Finanziert und unterhalten wird es durch den staatlichen Verein INABIF (Integral Nacional para el Bienestar Familiar). „Mithilfe der Kirche sowie der Kommune bietet die Anlage den stark traumatisierten Mädchen wieder ein sicheres Zuhause“, erklärt Monica. „Sie erhalten hier Unterkunft, Kleidung, regelmäßige Mahlzeiten und haben einen geregelten Tagesablauf.“ Zur Schule werden sie montags bis samstags mit einem Bus gebracht. Jeden Sonntag gehen sie zusammen in den Gottesdienst. Hinter die hohen Betonmauern mit Wachturm gelangen Besucher erst nach Anmeldung an einem großen Metalltor. Zusätzlich beschützt uniformiertes Securitypersonal das Areal.

Auch Monicas älteste Tochter Grecia engagiert sie sich hier. Selbst kleinen, neuaufgenommenen Kindern fehle oft der Lebensmut, beobachtet die 19-jährige Studentin. „Oft war für diese Kinder die Straße ihr Zuhause. Sie gingen nicht zur Schule und mussten für die Familie arbeiten“, berichtet Grecia, die sehr gut Deutsch spricht, unüberhörbar mit Schweizer Akzent. Vor zwei Jahren lebte sie in Basel und Zürich und hielt dort einen Vortrag über das Projekt in ihrer Heimat. Spontan kamen danach mehr als 5000 US-Dollar zusammen, später noch einmal 10.000 Schweizer Franken für den aktuellen Erweiterungsbau.

Prägende Erlebnisse

„Insgesamt müssten wir vier neue Häuser bauen, denn der Bedarf ist leider immer noch groß“, hält Monica fest. Wer einen Blick in die kahlen Zimmer wirft, ahnt, was sie meint: sechs metallene Doppelstockbetten, denen allenfalls ein paar Plüschtiere, Teddys und Puppen etwas Wohlfühlatmosphäre geben, füllen den etwa zehn Quadratmeter großen Raum. Die wenigen Habseligkeiten der Kinder befinden sich in grauen Metallspinden oder in Koffern, die darauf lagern.

Mehr als 15.000 junge Deutsche verbringen während ihrer Schulzeit mehr als drei Monate im Ausland. Die meisten zieht es in die USA, nach Kanada und Neuseeland. Oft steht das Lernen einer Fremdsprache oder Kennenlernen von Land und Leuten im Vordergrund. Durch das Austauschprogramm in Chincha sollen junge Menschen für die Nöte von Menschen in anderen Gegenden der Welt sensibilisiert werden. Gastmutter Monica ist überzeugt, dass der Aufenthalt ihre jungen Gäste geprägt hat und nachwirken wird.

Lia ist inzwischen wieder zurück in Berlin. Der Abschied fiel ihr nach fast einem Jahr nicht leicht, es seien viele Tränen geflossen. In Peru habe sie spüren können, „was es konkret und praktisch mit dem Wort Nächstenliebe auf sich hat“.