„Wenn Liebe nicht mehr ewig währt“

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Patchwork als Notlösung: Ziel bleibt die Annäherung an die heile Welt der natürlichen Familie. Ein Erfahrungsbericht.

Stolz ragt der weiße Turm in den blauen Himmel. Rote Zinnen umkränzen das Dach. Auf einem kleinen Hügel am Rande Berlins liegt die Türmchen-Villa von Bernd Guggenberger. Guggenberger ist Professor für politische Wissenschaft. Er war zweimal verheiratet. Beide Ehen endeten für ihn unglücklich. Es kam beide Male zur Scheidung: bei der ersten Ehe – mit vorangegangener Trennung – nach über 20 Jahren, bei der zweiten nach über zehn Jahren. Aus den Ehen gingen insgesamt drei Kinder hervor. Nach der Trennung von seiner ersten Frau war der Hochschullehrer mehr als anderthalb Jahrzehnte alleinerziehender Vater zweier Kinder.

„Die Liebe und die auf sie gegründete Liebesehe beziehen die Option auf Dauerhaftigkeit mit ein. Beziehungen dagegen sind von vornherein temporär angelegt“, räsoniert Guggenberger beim Gang durch seinen Garten. Die Vergänglichkeit von Liebesbeziehungen ist eines der vielen zeitdiagnostischen Themen, mit denen er sich in den zurückliegenden Jahrzehnten als Wissenschaftler und Essayist beschäftigt hat. Bereits in den 80er Jahren machte er mit seinem viel zitierten FAZ-Artikel „Wenn Liebe zur Beziehung wird“ Furore.

Rache durch vorenthaltene Lebenserfahrung

Nach der Scheidung von seiner zweiten Ehefrau wurden ihm vom Gericht sämtliche Sorge- und Erziehungsrechte für seinen damals 14-jährigen Sohn aberkannt. Dieses Schicksal teilt er mit vielen geschiedenen Vätern, aufgrund einer wohl nicht mehr zeitgemäßen Rechtsprechung. Guggenberger sah sein drittes Kind viele Jahre nicht mehr. Seine beiden – zeitlich weit auseinander liegenden – Ehen bezeichnet Guggenberger auch heute noch über die längste Zeit ihres Bestandes als „außergewöhnlich intensiv und glücklich“.

Als seine erste Ehefrau Ende der 70er Jahre die Familie verließ, waren die Kinder Sophie und Damian gerade einmal vier und acht Jahre alt. Sie hatte damals mit ihrem freiwilligen Sorgerechtsverzicht gewiss auch im Interesse der stark auf den Vater fixierten Kinder gehandelt und „einen für sie schmerzlichen Weg gewählt“, wie ihr ehemaliger Mann es rückblickend sieht. Sie teilte mit ihm wohl auch die Überzeugung, dass der Vater den Kindern mehr geben konnte.

Sie selbst war allein mit ihrer Mutter aufgewachsen. Sie hatte nie die Chance, Teil einer intakten, vollständigen Familie zu sein, die Rückhalt und Geborgenheit bietet. Ähnliches gilt auch für Guggenbergers zweite Ehefrau. Für sie gehörten die wechselnden Partnerschaften ihrer Mutter zum Erfahrungsalltag als Heranwachsende. Sind das alles nur bedeutungslose biografische Zufälle? „Könnte es nicht sein“, sinniert Guggenberger, „dass sich Lebenserfahrungen zwar nicht einfach forterben lassen, weil jeder sie selbst machen muss; dass sich aber vorenthaltene Lebenserfahrung rächt?“ Er fragt sich heute, ob Menschen, die den Wert und die Bedeutung von  im eigenen Elternhaus nie keVerlässlichkeit, Familiensolidarität und Treue im eigenen Elternhaus nich kennengelernt haben, diese später selbst vermissen werden.

„Es gibt nichts Wichtigeres für ein gelingendes Leben als die Familie und eine glückliche Kindheit.“

Guggenberger hat seinen älteren Kindern Sophie und Damian die Trennung von ihrer Mutter nie schöngeredet: „Gewiss habe ich versucht, sie so wenig als möglich zu belasten. Auf der anderen Seite habe ich ihnen aber auch das Zumutbare zugemutet: das Wissen, dass sich in ihrem Familienbiotop eine Katastrophe ereignet hat, etwas, das das unbeschwerte Familienglück in einem Augenblick erschüttert hat, etwas, das nie hätte passieren dürfen.

Vater und Mutter „als feste, durch nichts zu erschütternde Burg“

Nie hat er die Trennung verniedlicht nach dem Motto: „Man kennt sich, man trennt sich. Alles ist halb so schlimm. Wir bleiben alle Freunde fürs Leben.“ Von solchen Unverbindlichkeiten hält er nichts. Was er selbst hatte, eine Familie mit Vater und Mutter „als feste, durch nichts zu erschütternde Burg“, das konnte er seinen Kindern nicht geben.

Eine der schmerzlichen Lehren des Lebens, über die sich Guggenberger mit seinen Kindern in der Zeit „nach der Katastrophe“ oft austauschte, war die Tatsache, „dass eben nichts selbstverständlich ist und weniges nur verlässlich und für menschliche Ewigkeiten gültig. Und: dass wir ganz selten nur merken, dass wir glücklich sind, solange das Glück da ist und anhält. Glück ist ein Rückspiegelphänomen. Man wird seiner erst gewahr, wenn es gefährdet ist, wenn es uns entschwindet.“

Familienglück hat viel mit Gewöhnung zu tun

Was aber folgt aus dieser Einsicht? „Für das Glück muss man fortlaufend Einsatz bringen. Man muss beizeiten damit anfangen, es auch dort zu entdecken, wo man es gemeinhin gar nicht suchen würde: im Alltag, in den ganz gewöhnlichen und banalen Tagesverrichtungen. Für Guggenberger ist Familie gerade nicht der nie endende Sonntagsausflug: „Familie ist auch und gerade, wenn’s weh tut, wenn nichts mehr geht, wenn’s vermeintlich nicht mehr zum Aushalten ist. Auf Familie-light lässt Familienglück sich nicht gründen. So ernüchternd das klingen mag, Familienglück hat viel mit Gewöhnung zu tun, mit langjähriger, über die Generationenschwelle weitergereichter Erfahrung.“

Guggenberger selbst ist in einer Familie mit Vater, Mutter und fünf Geschwistern groß geworden, die sich, allem unvermeidlichen innerfamiliären Kleinkrieg zum Trotz, stets ein Stück weit als unaufkündbare „verschworene Gemeinschaft“ verstanden hat. „Wenn’s darauf ankam, war sie eine verlässliche Größe. Der eine konnte auf den anderen bauen.“ Guggenbergers Geschwister fanden alle Partner aus intakten Familien. Trennungs- oder Scheidungswaisen gibt es unter den jeweiligen Ehepartnern keine. Ihre Ehen halten bis heute, ohne Anzeichen äußerer Erschütterung.

Guggenberger fragt sich heute, ob Kinder, die mit wechselnden Vätern oder – seltener – Müttern groß werden, auch aus diesen „negativen Vorbildern“ lernen können: „Klar, sie nehmen sich fest vor: So möchte ich es einmal mit meinem Partner selbst nicht machen. Aber wenn der Konflikt im eigenen Leben da ist – werden sie ihn anders bewältigen als ihre Eltern? Vieles ist heute nicht mehr auf Ewigkeit angelegt. Jeder muss mit der Vergänglichkeit aller Versprechen rechnen.“ Es zeuge längst nicht mehr von Zynismus, wenn man den Kindern zumute, diese Vergänglichkeit im Kalkül zu haben; zum Beispiel in Gestalt „der Liebeskatastrophe der Eltern, bis hin zur völligen Gesprächsunfähigkeit am Ende einer Beziehung zwischen Menschen, die sich einmal sehr nahe waren“.

„Patchworkfamilien sind für Guggenberger ein Symptom der modernen Flüchtigkeitsgesellschaft.“

Anders als viele gleichaltrige Vertreter der 68er Generation hat Guggenberger das Modell „Familie-light“, wie er es nennt, nie überzeugt. In den 80er Jahren, als er als Hochschullehrer in Bielefeld tätig war, erlebten seine Kinder die Partnerwechsel ihrer Schulkameraden. Die Familien ohne Trauschein waren hier längst der Normalfall. In der Jahrgangsklasse von Sohn Damian entstammten gerade einmal drei Schüler einer klassischen Familie. Die alleinerziehenden Mütter dominierten. Guggenberger blieb selbst in diesem Umfeld als alleinerziehender Vater ein einsamer Exot.

Glück durch Leidenstoleranz und Durchhaltevermögen

Die heutigen Patchworksituationen sind laut Guggenberger „ein unglücklicher, um nicht zu sagen ein dummer Begriff“ und seien „der Not geschuldet, wenn Liebe nicht mehr ewig währt und das obendrein keinen sonderlich mehr kümmert“. Es sei höchst fraglich, ob, „aller wohlfeilen Lippenbekenntnisse zum Trotz, wirklich das dauerhafte Kinderglück im Mittelpunkt des Abwägens“ stehe. Und vielleicht sollte man ja auch „zur Glücksökonomie der Partnerbeziehung stärker die Frage bedenken: Welche Paare werden wirklich in der zweiten, dritten, vierten oder fünften Beziehungkonfiguration dauerhaft glücklicher als in der ersten?“

Natürlich gebe es die unglücklichen Ehen, bei denen eine Trennung und Neuordnung des Lebens besser ist. „Aber das Leichte, Lockere im Umgang miteinander, fehlende Leidenstoleranz, mangelndes Durchhaltevermögen, das schnelle Aufkündigen – dies alles ist zu einer neuen Not der Zeit geworden.“ Patchworkfamilien sind für Guggenberger ein Symptom der modernen Flüchtigkeitsgesellschaft: „Wenn immer mehr Informationen und Bilder in immer kürzeren Intervallen auf uns einwirken, gerät unsere Reizökonomie außer Rand und Band. Die neuen Bilder, Landschaften, Menschen, Gegenstände und auch Gefühlszustände, die pro Zeiteinheit auf uns einwirken, wachsen ins Unermessliche an.“

Deshalb können viele Menschen die geistigen und emotionalen Eindrücke nicht mehr verarbeiten: Alles lässt sie kalt. Was man nur flüchtig berührt, wird ebenso rasch wieder fallen gelassen. Schnell eilt man weiter. Ein „spannender Partner“ müsse heute vor allem eines können: „die Langeweile vertreiben“. Und seine Analyse schließt die Gesellschaftskritik gleich mit ein, wenn er resümiert: „Zu einer stark an der Wirtschaft ausgerichteten Gesellschaft mit ihrem Erfordernis des flexiblen Arbeitskaders, der jederzeit abrufbar ist, passen mobile Familienstrukturen und hohe Trennungsbereitschaften nur zu gut! So etwas Sperriges wie Treue liegt völlig quer zum neuen, flexiblen Menschentyp, erscheint uns hoffnungslos veraltet, kann aber gerade aus diesem Grund ganz schnell auch wieder ultramodern werden.“

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