Am 12. Dezember 1944 wird Regina Jonas in Auschwitz ermordet. Bis heute ist die weltweit erste Frau, die als Rabbinerin tätig war, für ordinierte Jüdinnen ein Vorbild. Beinahe wäre sie vergessen worden.
„Regina Jonas war Anfang 40, als sie in Auschwitz ermordet wurde. Für mich hat das einen ganz persönlichen Bezug, weil ich in einem ähnlichen Alter bin. Ich hoffe, dass ich im seelischen oder im persönlichen Leben in ihre Fußstapfen trete“, bekennt Rabbinerin Nitzan Stein-Kokin. Sie gehört der „Masorti“-Bewegung an, der traditionellen, aber nicht orthodoxen Strömung im Judentum. Stein-Kokin sieht sich als eine der Erbinnen von Regina Jonas, der ersten Rabbinerin der Welt. Geboren im August 1902 als Tochter eines orthodoxen jüdischen Hausierers im Berliner Scheunenviertel, wird Jonas im November 1942 ins Ghetto Theresienstadt nördlich von Prag verschleppt. Während der Schoah spricht Jonas in Theresienstadt ihren Mitgefangenen Mut zu. Am 12. Dezember 1944 wird sie im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.
Das Wissen um das Schicksal von Regina Jonas ist einer evangelischen Theologin zu verdanken: Katharina von Kellenbach. Und das kam so: „In den USA habe ich mich an der Uni Philadelphia vorgestellt als Theologin, die Pfarrerin werden möchte und meine Nachbarin Joana Katz meinte, sie würde ebenfalls Theologie studieren und Rabbinerin werden. Worauf ich gesagt habe: Es gibt keine Rabbinerinnen. Und sie entgegnete: Du kennst deine deutsche Geschichte nicht. Die erste Frau wurde in Berlin ordiniert und ihr Name war Regina Jonas.“
Ihre eigene Unwissenheit „als nichtjüdische Deutsche“ wollte Katharina von Kellenbach, die heute als Professorin für Religiöse Studien am St. Mary’s College of Maryland arbeitet, kompensieren und begann mit wissenschaftlichen Nachforschungen. „Ich habe das damals als eine Art Reparationsleistung gesehen, dass ich das Andenken einer der sechs Millionen ermordeten Juden der Vergessenheit entreiße.“ Ihre damalige Arbeit sieht sie heute als „eine Art, mit deutscher Schuld, mit dieser unglaublichen Zerstörung durch den Holocaust, produktiv umzugehen“. Sie übergab alle ihre Unterlagen und Materialien an die heutige Frankfurter Rabbinerin Elisa Klapheck, die vor gut zwei Jahrzehnten Bücher über Jonas publizierte. Viele Informationen in „Fräulein Rabbiner Jonas. Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ kommen aus Katharina von Kellenbachs Forschungen. Sie traf in den USA Zeitzeugen, die Regina Jonas noch persönlich kannten.
„Ihr Weg war kein Zuckerschlecken“
Rabbinerin Jonas war schon zu Lebzeiten bei jungen Frauen sehr geschätzt, wie von Kellenbach berichtet. Sie erhielt Briefe von Frauen, in denen stand: „Sie war so ein Vorbild für mich und ich dachte mir, wenn sie Rabbinerin sein kann, dann kann ich es auch“.
Im Winter 1935 war es eine kleine Sensation und Weltpremiere, als mit Jonas zum ersten Mal eine Frau zur Rabbinerin ordiniert wurde. Am 27. Dezember 1935 bescheinigte der Offenbacher Rabbiner Dr. Max Dienemann, dass Regina Jonas – nach Diplom und bestandener Prüfung – „fähig ist, Fragen der Halacha zu beantworten und dass sie dazu geeignet ist, das rabbinische Amt zu bekleiden“. Rabbiner Walter Homolka, Professor an der Universität Potsdam sowie Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs in Berlin, findet über Jonas und die ersten Frauen in geistlichen Berufen klare Worte: „Ihr Weg war wahnsinnig schwer und sicherlich kein Zuckerschlecken. Und wäre nicht ein Rabbinermangel die Folge der Verfolgung von Juden im ‚Dritten Reich‘ gewesen, hätte es Regina Jonas wahrscheinlich überhaupt nicht geschafft.“ Weil immer mehr Rabbiner emigrierten oder deportiert wurden. stieg die Zahl der Gemeinden, die ohne religiöse Betreuung blieben.
Es dauerte 75 Jahre, bis nach der Schoah in Deutschland wieder eine Frau zur Rabbinerin ordiniert wurde. Vor knapp zehn Jahren erhielt Alina Treiger im November 2010 in Berlin die Semicha genannte Weihe. Sie arbeitet heute als Rabbinerin in Oldenburg. In den vielen Jahren zwischen der Ordination von Regina Jonas und ihrer eigenen wurde das Judentum in Deutschland ein anderes, sagt Treiger: „Sie war für mich Geschichte, die leider auch mit diesem grausamen Ende, mit dem Holocaust, verbunden ist. Bei mir ist alles etwas anders. Ich komme aus der Ukraine. Bin eine Einwanderin. Ich stelle nicht das typische deutsche Judentum dar, was vor dem Krieg existierte. Regina Jonas lebte in einer Zeit, die Frauen sehr stark ablehnte. Ich lebe in einer Zeit, wo viele Rabbinerinnen schon erfolgreich ihren Weg gegangen sind.“
„Das sind sehr große Fußstapfen“
Im ultraorthodoxen Judentum ist Frauen das Amt bis heute verwehrt, aber unter den gut 30 Mitgliedern in der Allgemeinen Rabbinerkonferenz in Deutschland im Zentralrat der Juden sind sieben Rabbinerinnen. Sie gehören sowohl Einheitsgemeinden als auch liberal-progressiven Gemeinden an. Zu diesen sieben Frauen in der Rabbinerkonferenz gehört Gesa Ederberg, die als konservative Rabbinerin ihre erste Berufsstation in Weiden in der Oberpfalz hatte. Seit über 15 Jahren wirkt sie in der jüdischen Gemeinde zu Berlin – in der berühmten Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße mit ihrer glänzenden, weithin sichtbaren goldenen Kuppel. Ederberg schildert ihre Gefühle, wenn sie an ihre Vorgängerin Jonas denkt: „Ich bin sehr stolz, Rabbinerin in der Synagoge zu sein, an der auch Regina Jonas gewirkt hat. Schon bevor ich Rabbinerin wurde, war sie für mich dieses leuchtende Vorbild und dann hier in einem gewissen Sinn ihre direkte Nachfolgerin zu sein – das sind sehr große Fußstapfen, aber ich bemühe mich sie zu füllen.“
In Amerika scheinen es jüdische Frauen in geistlichen Ämtern und Funktionen deutlich leichter zu haben. Immerhin arbeiten in den USA über 1000 Frauen als Rabbinerin. Wenn bei uns in Deutschland eine Frau als Rabbinerin arbeiten möchte, muss sie es sich vorher gut überlegen, betont Rabbiner Homolka vom Abraham-Geiger-Kolleg: „Diejenige, die sich für diesen Beruf entscheidet, muss sich darüber im Klaren sein, dass sie einen schweren Weg geht. Viele Frauen haben ihr Rabbinat als schwierig empfunden und litten unter Akzeptanzproblemen. Unser Ziel ist natürlich, dass Frauen diesen Beruf auch glücklich ausüben.“
Mutmacherin Regina Jonas
Der Leiter des Berliner Instituts Kirche und Judentum, dem Zentrum für Christlich-Jüdische Studien der Humboldt Universität, Professor Christoph Makschies, sieht die aktuellen Entwicklungen optimistisch: „Ich bin eigentlich ganz sicher, dass in 20 oder 30 Jahren die Zahl der Rabbinerinnen stark angewachsen sein wird. Die jüdischen Gemeinden werden sich sagen, diese klugen Frauen hätten wir gerne, das tut unserem religiösen Leben gut.“
Dank Regina Jonas ist die Ordination von Frauen zur Rabbinerin seit den 70er-Jahren weltweit üblich. Aber dass es in Deutschland aktuell nur sieben Gemeinde-Rabbinerinnen gibt, hat seine Gründe. Offensichtlich tun sich immer noch viele jüdische Gemeinden mit einer Frau am Toraschrein schwer. „Manche der Argumente gegen Frauen im Rabbinat sind immer noch dieselben wie vor über 80 Jahren“, erklärt Rabbinerin Stein-Kokin. „Diese Beharrlichkeit von Regina Jonas mit der sie ihr Ziel verfolgt hat, ist für mich ein Vorbild. Sie gibt mir Mut.“