Im brandenburgischen Petershagen hat eine katholische Grundschule einen sehr guten Ruf bei Schülern, Eltern und Pädagogen – auch dank der Direktorin Anja Wuttke-Neumann.
„Ich bin seit zwei Jahrzehnten Kunstlehrerin mit Leib und Seele und seit 13 Jahren Schulleiterin“, erzählt Anja Wuttke-Neumann gleich am Eingang des modernen Schulgebäudes. Sie würde auch im Leben nichts mehr anderes machen wollen, „vielleicht nicht immer die nächsten 22 Jahre mit Corona“, aber sie sei „sehr froh, dass der Kunstunterricht so einen schönen Ausgleich zu meiner Verwaltungstätigkeit darstellt“.
Wenn sie gelegentlich hört: „Na, so ein bisschen malen, das kann ja jeder!“ mag das stimmen, aber sie plädiert für eine fachliche, fundierte Ausbildung und Anleitung der Kinder. „Manche meinten, so ein Sechsjähriger kann nur ein Männchen und eine Sonne malen. Das ist aber einfach nicht so!“
Man solle den Kindern mehr zutrauen und zumuten im Kunstunterricht: „Auch ein Erstklässler interessiert sich für Paul Klee oder für Picasso!“ Die Lehrerin spricht aus Erfahrung, wenn sie den Schweizer Zeichner und Maler Paul Klee anspricht, dessen Werke dem Expressionismus, Kubismus oder Surrealismus zugeordnet werden. Oder den berühmten spanischen Bildhauer, Maler und Grafiker Pablo Picasso, dessen Werke auf Kunstauktionen Höchstpreise erzielen. „Gerade für das Leben von richtig berühmten Künstlern interessieren sich Kinder unheimlich“. Sie traf schon ehemalige Schüler, die jetzt erwachsen sind, „und die wissen immer noch, wie der Hund von Picasso hieß, weil sie bei mir Kunstunterricht hatten“, sagt sie schmunzelnd.
Anja Wuttke-Neumann leitet die katholische Grundschule St. Hedwig in Petershagen am Rande Berlins, die 1993 gegründet wurde. Die Schule wird vom Berliner Erzbistum getragen. Ihre Vorgängerin war noch eine Ordensschwester. An der einzügigen Schule arbeiten 12 Lehrerinnen sowie fünf Erzieherinnen und ein Erzieher. Für die 160 Kinder in den sechs Klassen gibt es auch eine eigene Hortbetreuung. Aber begonnen hat Wuttke-Neumann an einer anderen Schule im Land Brandenburg, die sich ebenfalls in Trägerschaft des Berliner Erzbistums befindet: am katholischen Bernhardinum in Fürstenwalde. Hier absolvierte sie erst ihr Referendariat, war dort zwei Jahre als Lehrerin und später stellvertretende Schulleiterin tätig. Studiert hat sie Grundschulpädagogik in Potsdam und wurde damals mit gerade mal 25 Jahren die jüngste ausgebildete Lehrerin im Land Brandenburg.
Staatliche Repressalien für den Traumberuf
Geboren wurde Anja Wuttke-Neumann 1975 in Dresden. Ihre Herkunft hört man ihr nicht an, kein Dialekt ist vernehmbar. Charmant-lächelnd bemerkt sie: „Nur mit einem bisschen Wein kann ich das Sächsische wieder reaktivieren.“ Als sie in die vierte Klasse ging, zog ihre Familie an den Berliner Stadtrand. Sie ging in Grünheide zur Schule. „Schon in der fünften Klasse war für mich ganz klar: Ich möchte später Deutsch- und Kunstlehrerin werden.“ Den Hefter, in dem sie ihren Berufswunsch verewigte, hat sie immer noch. Doch so einfach sollte sich ihr Traumjob in der DDR nicht realisieren lassen, „weil man herausgefunden hatte, dass meine Familie mit der Kirche zu tun hat. Da wurde ich in der siebten Klasse – ich werde den Tag nie vergessen – aus dem Unterricht zum Direktor geholt.“ Ihr wurde nahegelegt, dass sie „auf jeden Fall auch in allen Organisationen sein und auch die Jugendweihe in der achten Klasse mitmachen“ müsste, wenn sie in der DDR Lehramt studieren möchte – andernfalls drohe ihr ein Studienverbot.
Man merkt ihr die innere Erregung bis heute an, wenn sie über diesen Erpressungsversuch und die staatlichen Zwangsmaßnahmen der kommunistischen Parteikader spricht. Alles nur, um junge Menschen von ihrem Glauben abzubringen und sie auf eine atheistische Linie im Sinne des Marxismus-Leninismus zu verpflichten. Sie wusste, dass man sie beobachtete. Bei der Jugendweihe stand jemand neben ihr, „der mitgefilmt hat, ob ich auch dieses Gelübde oder Gelöbnis – was man damals auf die DDR schwören musste, tatsächlich mitspreche. Für mich war das ein ganz schrecklicher Tag.“ Sie hätte den Rest des Tages nur geweint. „Aber weil mein Wunsch so groß war, Lehrerin zu werden und zu studieren“, hätte sie damals alles mitgemacht. „Und dann bin ich auch noch so ein bisschen von der Kirche bestraft worden“, weil man ihr sagte: Wer die Jugendweihe mitmache, dürfe nicht im gleichen Jahr auch zur Firmung gehen. Wenig später kam der Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung „und ich hätte mir das ganze Prozedere sparen können …“.
Anja Wuttke-Neumann lebt heute mit ihrer Familie in Berlin-Köpenick. Sie hat zwei Söhne: Franz (14) und Paul (15). Der ältere ist als Ministrant sehr aktiv. Sie selbst stammt aus einer Familie mit drei Kindern, hat zwei jüngere Brüder. „Meine Eltern waren damals im Elternkreis des Bernhardinums aktiv, die erste katholische Schule im Land Brandenburg.“
Die Direktorin kennt jeden Schüler
Der gute Ruf der Sankt Hedwig-Schule in Petershagen hat sich herumgesprochen. Deshalb nehmen einige Kinder auch lange Fahrtwege auf sich. Einige sind mit dem von der Schule organisierten Busunternehmen, welches bei Bedarf jedes Kind von der eigenen Haustür abholt, eine Stunde oder länger pro Fahrt unterwegs. Trotz dieses großen Einzugsgebietes schätzt Wuttke-Neumann die Atmosphäre und Stimmung in ihrer Schule als „sehr familiär“ ein. Als Schulleiterin kenne sie jedes Kind mit dem Namen „und ich sehe auch jedem Kind im Flur an, wenn mal irgendetwas nicht stimmt, weil ich weiß, wie jedes Kind normalerweise guckt“.
Die Nachfrage für einen Platz in der ersten Klasse sei im Schnitt drei Mal so hoch, wie Kinder an der Schule aufgenommen werden können. Das liegt auch an einem besonderen Umstand: „Weil wir viele Kinder haben, die besondere Betreuung brauchen: Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf. Das nimmt immens zu. Wenn ich ungefähr 70 Gespräche jedes Jahr führe, von denen ich dann so 25 bis 28 Kinder aufnehmen kann, sind außerdem 40 Prozent Kinder von Eltern dabei, die sich unsere Schule aussuchen, weil wir christlich sind.“
Auch wenn es in der Schule einen hohen sonderpädagogischen Förderbedarf gibt, sind dort keine extra Sonderpädagogen angestellt. „Aber wir nehmen die Kinder erst einmal so, wie sie sind. Und die anderen Kinder lernen auch damit umzugehen, dass nicht jeder Mensch gleich ist, dass es auch eine Bereicherung sein kann, wenn Kinder sich anders verhalten von ihrem Körper her und von ihren Leistungen.“ Sie spricht von „einer guten Mischung an Kindern“ und einem sehr motivierten Team, dass sich diesen Herausforderungen stellt.
So ist es wenig verwunderlich, wenn es nicht nur den Kindern und ihren Eltern an der Hedwig- Schule gefällt, sondern auch allen Lehrern. Selten fehlt mal eine Lehrkraft oder eine Erzieherin. Wenn sie sich mit anderen Kollegen unterhalte, dann klagen viele über Langzeitkranke. „Bildungseinrichtungen mit Massenbetrieb und Anonymität, das würde auch mich überfordern und belasten, so dass man vor Stress krank wird. Das habe ich hier nicht. Wenn bei uns mal eine Kollegin nicht da ist, dann ist sie auf Exkursion oder auf Klassenfahrt.“
Ein Lehrer ist heute ein Multifunktionswerkzeug
Lehrer sind heute in Schulen nicht nur Menschen, die Kinder unterrichten. Das hat auch Anja Wuttke-Neumann erfahren, die neben dem Unterricht auch manchmal Therapeutin, Familienzusammenführer oder Eheberaterin ist. „An vielen Schulen gehört das inzwischen zum Standard, dass man nicht mehr nur sein Fach unterrichtet und den Kindern den Spaß am Lernen vermittelt“, klagt sie. Denn in den Familien gäbe es zu viele Trennungskinder, viele Probleme belasteten die Kinder und hielten sie vom Lernen ab.
Der Notengebung und Bewertung von Leistungen in der Schule hat sie ihr eigens System unterlegt: „Klar müssen wir ab Klasse vier Noten geben, weil es die Vorgaben so vorsehen. Aber ich würde Kunst nie bewerten. Ich habe zu den Kindern gesagt, ich muss eine Zahl in mein Buch schreiben, aber ihr seid meine Jury.“ So legen immer ein paar Kinder die Kunstwerke aus und alle überlegen, was die Aufgabenstellung und die Kriterien waren. „Und die Kinder ordnen das dann ein. War es sehr gut gelungen – oder ein bisschen am Thema vorbei? Ich lass mir dann die Noten sagen und schreibe diese so auf, wie die Kinder das einschätzen.“ Dabei geht die Kunstlehrerin Wuttke-Neumann geschickt vor. „Das eigene Bild darf nicht bewertet werden und für den Geschmack gibt es auch keine Noten.“
An der Schule von Wuttke-Neumann kommen gut 50 Prozent der Kinder aus katholischen Elternhäusern. Das ist für ein Land wie Brandenburg, wo sich weniger als drei Prozent der Einwohner zum katholischen Glauben bekennen, sehr viel. Die andere Hälfte sind meist evangelische oder gar nicht getaufte Kinder. Aber einen Aufnahmebonus liefert die Konfession nicht: „Mir nützt es auch nichts, wenn jemand hier ankommt und sagt mein Kind ist katholisch getauft, also hat es wohl den Vorrang. Mir ist es wichtig, dass die Familien als Christen leben.“
Hin- und wieder kommt es vor, dass Kinder in der Schule zum christlichen Glauben finden. Im vergangenen Jahr haben sich zwei Geschwisterkinder taufen lassen: „Gleich hier nebenan in der St. Hubertuskirche – aus der Überzeugung heraus, dass sich das gut anfühlt, wenn man mit seiner Familie zu dieser Gemeinschaft gehört“, berichtet Anja Wuttke-Neumann und fragt zum Schluss: „Was kann es Schöneres geben, wenn wir auch zusammen in der Kirchengemeinde feiern und uns der Glaube über die Schule hinaus verbindet?“
Von Rocco Thiede